Politikwissenschaftler @BalderGullveig hat dieses sehr komplexe Thema im Detail analysiert.
Ich hatte bereits vor drei Tagen an dieser Stelle dargelegt (siehe Artikel „Die EU und das Reparationsdarlehen an die Ukraine.“), dass die geplante EU-Finanzhilfe für die Ukraine letztlich auf einer gemeinsamen Haftung der Mitgliedstaaten beruhen wird, und die eingefrorenen russischen Vermögenswerte nur eine rhetorische Kulisse darstellen. Genau diese Prognose hat sich nun, schneller als erwartet, bestätigt. Am 5. Dezember 2025 kamen der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz, die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der belgische Premierminister Bart De Wever zu einem informellen Abendessen in Brüssel zusammen.
Dieses Krisengespräch markiert einen entscheidenden Meilenstein, durch den die gemeinsame Haftung der EU-Staaten für den Gesamtkredit an die Ukraine besiegelt wurde – unter dem Vorbehalt der finalen Bestätigung am EU-Gipfel am 18. Dezember. Es grenzt dabei an Ironie, dass gerade die (fiktive) Heranziehung des russischen Kapitalstocks Belgien zum Widerstand gegen eine vertraglich exponierte Rolle der in Belgien ansässigen Euroclear, die die eingefrorenen russischen Assets verwahrt, drängte – was nun zu einem erstmaligen klaren Bekenntnis einer kollektiven Risikoträgerschaft führte.
Belgiens Weigerung hatte sich auf völkerrechtlich klar definierte Regelungen gestützt, die eine Konfiszierung der russischen Einlagen verbieten und somit erhebliche rechtliche Risiken, einschließlich potenzieller Gegenmaßnahmen aus Moskau, bergen. Die EU-Kommission hatte diese Bedenken zunächst bagatellisiert, doch der wachsende Druck führte zu einer Anpassung des Plans.
Die nun in Brüssel erzielte Vereinbarung sieht eine Risikoverteilung vor, bei der die EU-Mitgliedstaaten kollektiv für alle Risiken haften. Nach dem Treffen betonte Bundeskanzler Merz: „Die besondere Betroffenheit Belgiens in der Frage einer Nutzbarmachung der eingefrorenen russischen Vermögenswerte ist unbestreitbar und muss in jeder denkbaren Lösung so adressiert werden, dass alle europäischen Staaten dasselbe Risiko tragen.“ Ursula von der Leyen unterstrich die Bedeutung der Einigung als „pragmatischen Schritt zur Stärkung der europäischen Solidarität“, der eine „legale und bedingungslose Garantie“ durch alle Mitgliedstaaten vorsieht. Premierminister De Wever bezeichnete die Lösung als „tragfähig für Belgien“, da sie die alleinige Belastung seines Landes vermeide und auf einer gemeinsamen EU-Risikoteilung beruhe: „I can still determine my own position, even if there are large, strong neighbours whom I like very much and greatly respect politically, who might ask me (to do) something differently.“ Damit wird die in der Voranalyse skizzierte Dynamik bestätigt: Die gemeinsame Haftung rückt in den Vordergrund, während die russischen Vermögenswerte eine unterstützende, aber keine führende Rolle einnehmen. Die öffentlich propagierte Lösung der Nutzung des russischen Kapitalstocks dient hierbei primär als Mittel zur Beruhigung der Öffentlichkeit, da sie die finanziellen Unsicherheiten kaschiert, ohne sie substantiell zu beseitigen.
Die begrenzte Rolle der russischen Vermögenswerte.
Die eingefrorenen russischen Vermögenswerte können keinen funktionalen Teil der erwartbaren Lösung bilden. Während die Nutzung der Zinsen – im Gegensatz zum Kapitalstock selbst – völkerrechtlich zulässig wäre, stehen sie im konkreten Fall nicht mehr zur Verfügung: Sie wurden bereits vollständig durch die G7-Vereinbarung von 2024 für den bestehenden 50-Milliarden-US-Dollar-Kredit verplant und abgeschöpft.
Die verbleibende Restsumme beträgt daher null.
Der Kapitalstock wiederum entzieht sich einer Konfiszierung aufgrund völkerrechtlicher Prinzipien, die eine solche Enteignung als Verstoß gegen das Gewohnheitsrecht und multilaterale Abkommen einstufen würden. Abgesehen von ihrer psychologischen Wirkung – als Signal der Entschlossenheit gegenüber Russland – spielen die russischen Assets somit keine finanztechnische Rolle in der angestrebten Lösung. Die erwartete Entscheidung am 18. Dezember wird diese Gelder, falls überhaupt, lediglich in rhetorischer Form einbeziehen – als symbolische Kulisse, nicht jedoch als reale Absicherung.
Eine Lösung, wie sie zunächst von der EU aggressiv propagiert wurde, also die tatsächliche Heranziehung der russischen Einlagen, wird aktuell auch von der Europäischen Zentralbank (EZB) abgelehnt, da sie rechtliche und finanzielle Risiken sieht und eine Garantierolle als Verstoß gegen ihre Unabhängigkeit betrachtet. Diese Entscheidung verstärkt die Abhängigkeit von der kollektiven Haftung der Mitgliedstaaten, da ohne EZB-Unterstützung keine zentrale Absicherung gegen Ausfälle besteht.
Ausblick auf den EU-Gipfel am 18. Dezember:
Konsolidierung der gemeinsamen Haftung.
Der bevorstehende EU-Gipfel am 18. Dezember 2025 wird voraussichtlich die finale Struktur des Kredits festlegen, der in seiner maximalen Ausgestaltung bis zu 140 Milliarden Euro umfassen könnte, mit 90 Milliarden Euro für 2026 und weiteren 50 Milliarden Euro für das Folgejahr. Die durch das Krisengespräch besiegelte gemeinsame Haftung wird so zum zentralen Mechanismus, den der EU-Gipfel endgültig in das Zielmodell verankern wird. Die Brüsseler Einigung und die EZB-Position weisen so den Weg für eine Lösung, in der die gemeinsame Haftung der Mitgliedstaaten im Zentrum steht.
Sollten die russischen Vermögenswerte aufgrund völkerrechtlicher Bedenken oder anderer Risiken aus der Gleichung entfernt werden – etwa durch eine Neubewertung kurz vor dem Gipfel –, würde dies die in der Ursprungsanalyse beschriebene Konfiguration ergeben: Eine reine kollektive Garantie ohne externe Absicherung.
Mit anderen Worten: Jetzt ist die gemeinsame Haftung aus dem Sack. Der nächste Schritt könnte sein, den Popanz „Russische Einlagen“ vom Tisch zu nehmen. Dann bleibt alleine die gemeinsame Risikoträgerschaft, vulgo Haftung aller EU-Staaten.
Die nationalen Haushalte würden durch diese Haftungsmechanismen signifikant belastet werden. Politisch wird dieser Betrag als Haftungssumme deklariert, die in den nationalen Finanzhaushalten berücksichtigt werden muss, doch aufgrund des vollständigen Wegfalls der russischen Assets handelt es sich de facto nicht um eine bloße Haftung im engeren Sinne, sondern um eine handfeste Tilgungssumme, die die Staaten letztlich tragen müssen.
Basierend auf dem üblichen EU-Finanzschlüssel würde Deutschland mit einem Anteil von etwa 25 % eine Belastung von rund 35 Milliarden Euro übernehmen, Österreich mit etwa 2,3 % rund 3,22 Milliarden Euro
Eine transparente Debatte über die Implikationen für die nationalen Budgets und die demokratische Legitimation der beschriebenen Entscheidungen selbst bleibt essenziell. Ob und inwieweit die EU und Anfang nächsten Jahres auch die nationalen Regierungen hierzu willens sind, wird sich bald zeigen. Ich persönlich gehe davon aus, dass bis zu einer vollständigen Irreversibilität die bisherige Strategie einer maximalen Intransparenz beibehalten wird und die nationalen Parlamente nur als formelle Abnickinstanzen über bereits vorher in Kraft gesetzte Top-down-Entscheidungen fungieren.
In den nächsten Tagen erscheint ein weiterer Artikel in welchem Politikwissenschaftler @BalderGullveig erläutert, warum es möglich ist, diesen Irrsinn mit einer qualifizierten Mehrheit statt einstimmig zu beschließen, also mit welchen Tricks hier „gearbeitet“ wird.
Den ersten Artikel zu diesem Thema finden Sie hier: Die EU und das Reparationsdarlehen an die Ukraine. Ein Täuschungsmanöver zur Verschleierung der haushaltspolitischen Folgen für die Mitgliedsstaaten.
Wer gerne mehr von Politikwissenschaftler Balder Gullveig lesen oder sich mit ihm austauschen möchte, findet ihn auf der Social-Media-Plattform X (vormals Twitter): @BalderGullveig
Weitere Interviews mit und Kommentare und Artikel von @BalderGullveig finden Sie hier:
Die EU und das Reparationsdarlehen an die Ukraine.
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Joe Biden verzichtet. Wie geht es weiter? Schnellanalyse, 21. Juli 2024
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Neueste Entwicklungen zur Präsidentschaftswahl in den USA. Interview, 21. Juni 2024
Die US-Präsidentschaftswahlen. Interview, 8. April 2024
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