Der Ukraine-Kredit als Symptom nationaler Entmachtung.
Politikwissenschaftler @BalderGullveig hat dieses sehr komplexe Thema im Detail analysiert.
In den ersten beiden Teilen dieser Serie wurden die Konstruktion des sogenannten Reparationsdarlehens an die Ukraine dargestellt: Im ersten Beitrag wurde gezeigt, dass es sich nicht um eine direkte Nutzung russischer Vermögenswerte handelt, sondern um eine gemeinsame Haftung der Mitgliedstaaten, die lediglich rhetorisch hinter der Kulisse eingefrorener Zentralbankguthaben versteckt wird. Der zweite Teil analysierte das Krisengespräch vom 5. Dezember 2025 und die anschließende Vorlage der Kommission vom 3. Dezember, die diese gemeinsame Haftung endgültig besiegelte.
Der vorliegende dritte Teil nutzt die nachrichtenarme Zeit bis zum Beginn des EU-Gipfels am 18. Dezember und fragt nach den verfassungs- und integrationspolitischen Folgen dieser Vorgehensweise. Denn das Verfahren zum Ukraine-Reparationskredit ist nicht nur ein weiteres Kapitel in der langen Reihe von Krisenreaktionen, sondern ein paradigmatischer Ausdruck einer seit etwa fünf Jahren zu beobachtenden, sukzessiven Machtverschiebung von den nationalen Parlamenten hin zur zentralen EU-Kommission – eine Entwicklung, die die Grundprinzipien der Europäischen Union in ihrem Kern infrage stellt. Diese Materie ist zugegebenermaßen etwas trocken – aber Glühwein will fix this.
Die ursprüngliche Idee: Eine Union mit begrenzter Kompetenz.
Die ursprüngliche Idee der Europäischen Gemeinschaften, wie sie in den Römischen Verträgen von 1957 und später im Maastrichter Vertrag von 1992 festgeschrieben wurde, war die einer strikt begrenzten, konföderalen Gemeinschaft. Die Mitgliedstaaten übertrugen Kompetenzen explizit und abschließend an die supranationale Ebene; jede Erweiterung dieses Katalogs erforderte die einstimmige Ratifizierung durch sämtliche nationalen Parlamente.
Dieses Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (heute Art. 5 EUV) sollte sicherstellen, dass die Union niemals eine eigene Kompetenzkompetenz – also die Befugnis, selbst über die Verteilung von Kompetenzen zu entscheiden – erlangen würde. Ältere Leser werden sich vielleicht noch an diesen Begriff erinnern, als ihn der damalige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber wiederholt verwendete. Mancher hielt ihn damals für reines Gestammel – und für Stoibers legendäre sprachliche Exkursionen, etwa die berühmte Beschreibung einer Fahrt mit der Magnetschwebebahn vom Münchner Hauptbahnhof zum Flughafen, war das durchaus berechtigt.
Doch gerade bei der Kompetenzkompetenz hatte Stoiber völlig recht: Er benutzte den Begriff korrekt – er stammt ursprünglich aus dem deutschen Verfassungsrecht (Art. 30 GG) – und beschrieb damit exakt jenes Prinzip, das heute von Brüssel schrittweise unterlaufen wird. Die Kompetenzkompetenz verblieb bei den Nationalstaaten, die durch das Einstimmigkeitsprinzip, insbesondere in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (Art. 24 EUV), vor einer schleichenden Entmachtung geschützt waren. Nationale Parlamente waren die ultima ratio demokratischer Legitimation; sie allein konnten entscheiden, ob und in welchem Umfang Souveränität abgegeben wird.
Die schleichende Zentralisierung seit 2020.
Seit dem Brexit (vollzogen 2020/2021), der die EU zu einer Demonstration innerer Geschlossenheit zwang, und verstärkt durch die Corona-Pandemie, den russischen Angriff auf die Ukraine, die Energiekrise, den Green Deal und der Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus – den die EU für einen politischen Katastrophenfall hält –, hat sich dieses Gefüge grundlegend verändert.
Die Kommission hat ihre Rolle als Agenda-Setter (Art. 17 EUV) systematisch ausgebaut und nutzt Krisenkontexte, um bestehende Rechtsgrundlagen interpretativ zu dehnen – eine Praxis, die zwar formal innerhalb der Verträge bleibt, aber deren Geist systematisch unterläuft. Die Corona-Krise markierte den ersten großen Sprung:
Mit dem NextGenerationEU-Fonds (750 Milliarden Euro) wurde erstmals unter Artikel 122 AEUV eine gemeinsame Verschuldung mit qualifizierter Mehrheit beschlossen, wobei die Subsidiaritätsprüfung durch nationale Parlamente wegen „außergewöhnlicher Dringlichkeit“ faktisch ausgesetzt wurde. Staaten wie die Niederlande oder Österreich wurden überstimmt; ihre Parlamente hatten keine reale Möglichkeit mehr, die Übertragung haushaltspolitischer Kompetenzen zu verhindern.
Der REPowerEU-Plan von 2022 wiederholte dieses Muster in der Energiepolitik, der Rule-of-Law-Mechanismus (Verordnung 2020/2092) etablierte eine konditionale Finanzsteuerung, die nationale Verfassungsgerichtsbarkeit unter EU-Vorbehalt stellte. In all diesen Fällen schrumpfte der Einfluss nationaler Parlamente von einem Vetorecht zu einer bloßen Anhörung – oft genug nicht einmal das.
Der Ukraine-Kredit: Höhepunkt der Machtverschiebung.
Das aktuelle Verfahren zum Ukraine-Reparationskredit stellt den bisherigen Höhepunkt dieser Entwicklung dar. Artikel 122 AEUV, ursprünglich für innere Versorgungskrisen gedacht, wird hier erstmals auf einen geopolitischen Konflikt angewandt. Die Kommission interpretiert den Ukraine-Krieg als „außergewöhnliche Umstände mit schweren wirtschaftlichen Auswirkungen“ und aktiviert damit die qualifizierte Mehrheit – obwohl Reparationsfragen und die Nutzung fremder Vermögenswerte klar in den Bereich der GASP fallen, wo Einstimmigkeit vorgeschrieben ist. Gleichzeitig wird die Subsidiaritätsprüfung durch nationale Parlamente erneut wegen Dringlichkeit ausgesetzt.
Das Ergebnis: Ein riesiges Finanzvolumen wird ohne echte parlamentarische Kontrolle auf EU-Ebene beschlossen. Vetos von Ungarn oder Belgien werden bedeutungslos; die Kommission entscheidet letztlich über die Konditionen der Auszahlung. Dies ist keine bloße „kreative Rechtsanwendung“ mehr, sondern eine offene Überdehnung der Rechtsvorschriften und der Geschäftsordnung des Rates: Artikel 122 war ursprünglich für interne Krisen konzipiert, nicht für Hilfsmaßnahmen für Drittländer. Die Kommission operationalisiert hier eine hybride Außenpolitik, die den Geist der Verträge verletzt und eine implizite Kompetenzkompetenz begründet.
Der Weg zum europäischen Zentralstaat.
Die Konsequenz ist unausweichlich: Die Europäische Union bewegt sich mit hoher Geschwindigkeit auf einen zentralisierten europäischen Bundesstaat zu, in dem die Mitgliedstaaten zwar formal weiter existieren, aber ihre entscheidenden staatlichen Kernkompetenzen – Haushalt, Außenpolitik, Energie – schrittweise ausgehöhlt werden. Die Idee einer „Union der Staaten“ weicht einem „Staat der Union“. Die Kompetenzkompetenz, die einst exklusiv bei den Nationalstaaten lag, wird schleichend auf die supranationale Ebene transferiert – nicht durch offene Vertragsänderung und demokratische Debatte, sondern durch die Hintertür permanenter Krisen und interpretativer Dehnung.
Rechtspositivistisch betrachtet mag all dies den Verträgen genügen, da sie auf bestehenden Artikeln basiert und vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) als proportional gelten könnte (z. B. im Pringle-Urteil von 2012). Der EuGH hat sich in den letzten Jahren zunehmend als Mitgestalter statt als bloßer Hüter der Verträge erwiesen – eine Entwicklung, die Kritiker als richterliche Politikgestaltung brandmarken. Doch sie führt die Grundidee der EU ad absurdum: Statt einer begrenzten Union entsteht ein zentralisierter europäischer Superstaat, in dem die Kommission als quasi-souveräner Akteur agiert.
Die Nationalstaaten werden sukzessive ausgehöhlt, ihre Parlamente zu bloßen Ratifizierungsorganen degradiert, und ihre Staatlichkeit droht zu erodieren. Dieser Pfad hin zu einem „europäischen Zentralstaat“ – getrieben von Effizienzimperativen in einer polykrisenhaften Welt – birgt das Risiko einer Legitimationskrise, da er die demokratische Souveränität der Völker untergräbt.
Die fehlende demokratische Legitimation.
Vor allem aber geht es um den Willen der Mehrheit der Bevölkerung in den heutigen EU-Ländern. Diese sollten letztlich entscheiden, welche Ausgestaltung die EU annehmen soll – ob eine lose Konföderation souveräner Staaten oder ein zentralisierter Bundesstaat mit supranationaler Dominanz. Bisher hat der Wille der Bevölkerung in der politischen Ausgestaltung der EU jedoch so gut wie keine Rolle gespielt. Die Integration war von Anbeginn ein top-down-Projekt der politischen Eliten, das sich zum Teil explizit gegen den manifesten Willen der Bevölkerung formierte und richtete – man denke an die Ablehnung des EU-Verfassungsvertrags durch Referenden in Frankreich und den Niederlanden 2005, die einfach umgangen wurde, oder an die anhaltende EU-Skepsis in Umfragen, die von Brüssel ignoriert wird.
Bei einem weiteren Fortgang im Sinne solcher top-down-Entscheidungen, bei denen der Wille der Bevölkerung nicht berücksichtigt wird, ist dieses Konstrukt schlichtweg demokratisch nicht legitimiert. Die Nationalstaaten werden zunehmend nur mehr als Finanzierer der Entscheidungen der EU-Kommission benötigt, die ihre Politik ohne echte Beteiligung der Bürger durchsetzt. Diese Irrelevanz der nationalen Souveränität und die fehlende demokratische Legitimation des Verfahrens – gekennzeichnet durch eine Abkoppelung von den Wählern und eine Konzentration der Macht in den Händen einer bürokratischen Elite – untergraben das Fundament der EU als Friedens- und Demokratieprojekt.
Erste Gegenbewegungen zeichnen sich allerdings ab: In mehreren Mitgliedstaaten fordern nationale Parlamente inzwischen die Wiedereinführung des Vetorechts oder sogar Referenden über neue Kompetenzübertragungen. Ohne eine Rückkehr zu direkten Volksabstimmungen oder einer Stärkung nationaler Parlamente droht die Union, sich in ein autoritäres Gebilde zu verwandeln, das den Anspruch auf Repräsentation verliert. Solange die EU sich weigert, ihre Bürger direkt zu befragen, bleibt sie ein Projekt der Eliten – und kein Projekt der Völker Europas. Die Frage ist nicht mehr, ob diese Entwicklung stattfindet – sie findet statt.
Die Frage ist, ob die Bürger und Parlamente der Mitgliedstaaten dies noch stoppen können, bevor die Staatlichkeit ihrer Nationen zur bloßen Hülle wird.
Die beiden vorangegangenen Artikel zu dieser Artikelserie finden Sie hier:
Die EU und das Reparationsdarlehen an die Ukraine. Ein Täuschungsmanöver zur Verschleierung der haushaltspolitischen Folgen für die Mitgliedsstaaten.
Update: Krisengespräch in Brüssel: Gemeinsame Haftung besiegelt – russische eingefrorene Assets sind nur Kulisse.
Wer gerne mehr von Politikwissenschaftler Balder Gullveig lesen oder sich mit ihm austauschen möchte, findet ihn auf der Social-Media-Plattform X (vormals Twitter): @BalderGullveig
Weitere Interviews mit und Kommentare und Artikel von @BalderGullveig finden Sie hier:
Die Ukraine-Krise als Vehikel für föderale Transformation. Überlegungen zur Agenda der EU-Kommission. Artikel, 12. Dezember 2025.
Die demokratisch nicht legitimierte Machtverschiebung in der EU. Artikel, 8. Dezember 2025.
Update: Krisengespräch in Brüssel. Gemeinsame Haftung besiegelt. Artikel, 6. Dezember 2025.
Die EU und das Reparationsdarlehen an die Ukraine. Artikel, 4. Dezember 2025.
Die Scharia in Österreich oder die unrühmliche Rolle des ÖVP-Langzeitfunktionärs Juraczka. Kommentar, 19. August 2025.
Trump, Putin und die Ukraine. Der Alaska-Gipfel. Artikel, 14. August 2025.
Der verschenkte Richtersitz. Interview, 9. Juli 2025.
Von der Leyen und ihr ominöser „Plan für die Wiederaufrüstung Europas.“ Interview, 12.März 2025.
Das Migrationsabkommen mit Kenia – eine Einordnung. Kommentar, 15. September 2024.
USA. Eine Woche vor der Wahl. Interview, 28. Oktober 2024.
USA: TV-Duell Harris vs. Trump. Es bleibt spannend. Schnellanalyse, 11. September 2024.
Ein Wahlkompass – Prost, alte Volkspartei. Interview. 28. August 2024.
Ein Wahlkompass. Warum die ÖVP tendenziell benachteiligt wird. Interview, 25. August.
USA. Robert F. Kennedy Jr. steigt aus. Was bedeutet das? Schnellanalyse, 22. August 2024.
Wir korrigieren den ehemaligen Nationalrat (Grüne) Harald Walser am 17. August 2024.
Joe Biden verzichtet. Wie geht es weiter? Schnellanalyse, 21. Juli 2024.
The candidacy of Joe Biden – it is all over now. Quickcheck, july 21st, 2024.
Die Kandidatur von Joe Biden. Es ist vorbei. Schnellanalyse, 6. Juli 2024.
Neueste Entwicklungen zur Präsidentschaftswahl in den USA. Interview, 21. Juni 2024.
Das Renaturierungsgesetz. Interview, 16. Juni 2024.
Die US-Präsidentschaftswahlen. Interview, 8. April 2024.
Die Werteunion – ein politischer Faktor in Deutschland? Interview, 22. Februar 2024.
Die AfD – ein Kandidat für ein Parteiverbot? Interview, 29. Februar 2024.
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