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Ein Wahlkompass – warum die ÖVP tendenziell benachteiligt wird.

Ein Interview mit Politikwissenschaftler @BalderGullveig.

Nur noch 5 Wochen sind es bis zur Nationalratswahl in Österreich.
Dieses Thema bestimmt natürlich zunehmend die politische Diskussion, und nicht jeder weiss mit absoluter Bestimmtheit, welcher Partei seine Stimme zuteil werden wird.
Bisher kannten wir – sozusagen als Orientierungshilfe – die Online-Plattform „Wahlkabine“. Vor kurzem, am 21. August, hat das Medium „Der Standard“ ein Tool publiziert, das ähnliches anbietet: den „Wahlkompass“. Angeblich könne man mit dessen Hilfe herausfinden, wie sehr man mit einer Partei übereinstimme bzw. welche Parteien einem am nächsten sind, so liest man auf der Seite des Standard.

Nun denn: ich habe diesen Kompass nicht nur „getestet“, sondern auch mit Politikwissenschaftler @BalderGullveig darüber gesprochen, und das mit sehr bemerkenswerten Ergebnissen.

Ja. Solche Instrumente stellen ein sehr beliebtes und auch hilfreiches Verfahren dar, die eigene politische Haltung mit den Programmen der Parteien abzugleichen. Das ist sehr sinnvoll, gerade wenn sich neue oder generell kleinere Parteien an der Wahl beteiligen, die man auch als politisch interessierter Mensch nicht so auf dem Schirm hat. Im Übrigen ist es auch sehr unterhaltsam, seine eigene Einordnung oder Parteinähe mit der seiner Freunde und Bekannten zu vergleichen.

Sind denn die Ergebnisse seriös und belastbar? Also anders gefragt: gibt mir das Ergebnis eine Wahlempfehlung, der ich vertrauen kann?

Zunächst stellen die Ergebnisse auch aus Sicht derer, die solche Einordnungshilfen erstellen, keine Wahlempfehlung dar. Das hat auch juristische Gründe. Sinnvoll für den Einzelnen sind sie meines Erachtens auf jeden Fall, gerade wenn sie methodisch gut gemacht sind und – und das ist ganz wichtig – das Ganze im Hinblick auf den Wirkungsmechanismus gut und transparent dokumentiert ist. Das ist beim Wahlkompass des Standard der Fall.

Das heißt, wenn man diese Fragen beantwortet, bekommt man eine verläßliche Einordnung, welche Partei der eigenen Position am nächsten ist. Dies darf dann zwar nicht Wahlempfehlung genannt werden, jeder kann es aber durchaus so betrachten und sich bei seiner Stimmabgabe davon leiten lassen?

Ja, das ist zunächst so. Man sollte dennoch einiges berücksichtigen, wenn man solche Präferenzeinordnungen nutzt. Natürlich hat ein solches Verfahren auch Grenzen. Besser wäre es, wenn nicht nur 30, sondern sagen wir 100 Fragen gestellt werden würden. Das Ergebnis wäre dann belastbarer. Aber auch die Zahl derer geringer, die bis zur letzten Frage durchhalten. Insofern ist das immer ein Kompromiss. Aber das ist nicht das größte Problem bei solchen Instrumenten.

Sondern?

Viele Benutzer geben sich sehr viel Mühe bei ihren Antworten, machen den Test vielleicht sogar mehrfach und achten darauf, welche Veränderungen sich ergeben. Das ist auch jedem generell zu empfehlen. Wenn man dann noch die Erläuterungen liest, wie sie auch dieser Kompass bietet, erhält man einen sehr guten Einblick in die Programmatik der Parteien. Die Krux liegt aber viel mehr in der Matrix selbst und der Positionierung der Parteien.

Das müssen Sie mir jetzt erklären.

Viele neue Anwender solcher Orientierungshilfen denken, die Matrix stellt das gesamte denkbare politische Spektrum dar. Das ist aber nicht so. Es bildet lediglich den Teil der politischen Landschaft ab, der durch die dargestellten Parteien repräsentiert wird. Das ist methodisch auch konsequent und richtig. Es ist aber für die Interpretation des Ergebnisses wichtig. Ein Beispiel: der Kompass ordnet die ÖVP im rechten oberen Quadranten als die exponierteste Partei ein. Sie ist also gemäß dieser Positionierung die konservativste Partei, sowohl in gesellschaftlicher wie auch wirtschaftlicher Hinsicht. Ob diese Darstellung etwa im Vergleich zur FPÖ zutreffend ist, darüber kann man natürlich geteilter Meinung sein. Vermutlich resultiert die Positionierung der ÖVP auf einer engen Auslegung eines angejahrten Grundsatz- oder Wahlprogrammes, was aber nicht unbedingt die politische Haltung dieser Partei im realen Handeln des Alltages widerspiegeln muss. Das ist methodisch durchaus korrekt, so vorzugehen. Ich will aber auf etwas anderes hinaus.

Jetzt bin ich gespannt.

Der Aufbau solcher Einordnungshilfen bringt es mit sich, dass im Gegensatz zur Meinung vieler Nutzer nicht jeder Punkt innerhalb der Matrix besetzt werden kann. Bleiben wir im rechten oberen Quadranten bei der ÖVP. Vielleicht hat sich der eine oder andere Funktionär dieser Partei gefreut, dass seine Partei hier stramm konservativ positioniert ist. Das sei ihm gestattet. Wenn man allerdings vermutet, dass sich ein signifikanter Anteil der Wähler tatsächlich bei seiner Wahlentscheidung vom Testergebnis leiten lässt, so hat er sich vermutlich zu früh gefreut.

Jetzt wird es spannend.

Nun, die tatsächlich besetzbaren Punkte ergeben sich wie gesagt durch das abgebildete Parteienspektrum. So bildet rechts oben die ÖVP die rechte obere Ecke eines Rechtecks, das vergleichsweise zentriert innerhalb dieser Matrix liegt. Werte oberhalb und oben rechts der ÖVP können nicht erreicht werden. Dies wäre nur möglich, wenn eine weitere Partei mit einer sehr rechten, sagen wir rechtsextremen Auffassung beteiligt und natürlich im Hinblick auf ihre Programmatik in den Testfragen abgebildet wäre. Sagen wir etwa, eine völkisch oder identitär ausgerichtete Partei. Das ist aber nicht der Fall und dies ist auch nicht zu kritisieren. Es hat aber zur Folge, dass die Positionierung der ÖVP nur selten tatsächlich erreicht wird. Vermutlich ist dies auch vielen Nutzern bereits aufgefallen, die meinten, ihre Haltung entspräche weitgehend der Programmatik der ÖVP, ihr erzieltes Ergebnis ist jedoch mehr oder weniger deutlich zu dem Bubble dieser Partei abweichend. Übrigens ist der Raum bzw. die Raumgröße, die gar nicht erreicht werden kann, rein zufällig oder sagen wir psychologisch gewählt. Das, was ich eben als zentriertes inneres Rechteck bezeichnet habe, das den tatsächlich erreichbaren Positionierungsraum definiert, könnte auch die Außenlinie der Matrix sein. Das jedoch würde suggerieren, dass eine Partei, rechts oben die ÖVP, links unten die KEINE oder KPÖ am absoluten Ende der politischen Skala zu finden wäre. Das ist bei den hier beteiligten Parteien natürlich nicht der Fall. Deshalb erweitert man das tatsächliche Spektrum um eine frei gewählte Außenfläche.

Sie haben angedeutet, dass die sehr konservative Positionierung der ÖVP kein Vorteil für sie ist, wenn die Nutzer den Testergebnissen dieses Kompass‘ folgen. Können Sie dies näher erläutern?

Das bedeutet konkret, dass die ÖVP überdurchschnittlich unter Abweichungen leidet, bei denen die Antworten oder besser die politische Einstellung des Anwenders von der hier abgebildeten Programmatik abweicht – sich also vielleicht eher am politischen Handeln der Volkspartei leiten läßt, das ja bedingt durch Koalitionen nie dem eigenem Wahlprogramm entspricht. Nicht wenige User, die sich selbst im engen Umfeld der Volkspartei verorten, werden sich so im wahrsten Sinne des Wortes in der Nähe der MFG oder der FPÖ wiederfinden. Es wäre spannend, wenn Sie Ihre Leser bitten, ihre Ergebnisse als Kommentare zu veröffentlichen, mit einer kurzen Bewertung, ob sie sich selbst so richtig positioniert sehen.

Zusammenfassend, was ist Ihre Einschätzung zum Gesamteffekt und kann das bewusst so gesteuert sein oder ist das eher Zufall?

Im Gesamteffekt wird es nicht wenige Nutzer geben, die – etwa weil sie generell wenig zu Maximalausprägungen bei ihren Antworten neigen, also 1 und 7 – in der Nähe der bereits genannten beiden Wettbewerber landen. Wie gesagt, das ist sozusagen systemisch bedingt. Folgen diese Nutzer dem Ergebnis des Kompass‘, bewerten sie dieses Tool also als Wahlhilfe oder -empfehlung, würde das Wahlergebnis für die ÖVP entsprechend geringer ausfallen, ohne dass dies vollständig durch die politische Haltung dieser Personen selbst abgedeckt wäre. Eine Absicht möchte ich dabei nicht unterstellen. Jedes Werkzeug, das mit qualitativen statt quantitativen Daten auskommen muss, birgt Unschärfen. Und hier sind es eben die beschriebenen. Das ändert wenig an der Nützlichkeit dieses Angebotes, zumal dann, wenn man um diese methodisch bedingte Einschränkung weiß.


Wer gerne mehr von Politikwissenschaftler @BalderGullveig lesen oder sich mit ihm austauschen möchte, findet ihn auf der Social-Media-Plattform X (vormals Twitter): @BalderGullveig


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Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. C. Schwenniger

    Ich habe das Tool nicht durchgespielt, da ich bei den Autoren schon den Verdacht habe, dass es sich um eine geschickte Agitation handelt…wovon ich beim „SubStandard“ ohnehin grundsätzlich ausgehe.

    Die sehr überzeugende Analyse hier auf KlarteXXt bestätigt mich in meiner Skepsis, vielen Dank.👍👏

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