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Der verschenkte Richtersitz.

Zur aktuellen Frage der Besetzung dreier Richterstellen am Bundesverfassungsgericht – darunter eine Kandidatin, die besonders umstritten ist – habe ich mit Politikwissenschaftler @BalderGullveig gesprochen.

Die anstehende Neubesetzung von insgesamt drei Richterstellen am Bundesverfassungsgericht dominiert gegenwärtig die politische Berichterstattung in allen Medien. wie ist Ihre Sicht der Dinge?

Hierzu wurde bereits viel Wichtiges und Richtiges geschrieben. Ich möchte einen Aspekt ergänzen, der bisher zu kurz gekommen ist, der aber das strategische Versagen der Union, die Interessen der bürgerlichen Mitte in politischen Verhandlungen mit dem Koalitionspartnern, insbesondere der SPD, durchzusetzen, symptomatisch aufzeigt.

Dazu muss man wissen, dass die beiden Senate des Bundesverfassungsgerichts jeweils 8 Richter haben. Scheiden Richter aus, so wie dies nun in naher Zukunft der Fall ist, hat die Politik, genauer die Parteien des Bundestages, ein Vorschlagsrecht zur Neubesetzung der frei werdenden Richterstellen.

Dies ist an und für sich schon nicht unproblematisch, weil dadurch eine nicht völlig von der Legislative unabhängige Besetzung dieses enorm wichtigen Organs der Judikative vollzogen wird. Es gibt viele Stimmen, die dies für kritisch in Bezug auf die Gewaltenteilung halten. Ich halte diese Bedenken auch für gerechtfertigt. Aber ich würde gerne einen anderen Punkt in die aktuelle Debatte einbringen.

Es geht Ihnen um die numerische Zuordnung des Vorschlagrechts an die Parteien, dass den Wandel der politischen Landschaft in Deutschland, also insbesondere die Stimmenverluste der SPD nicht abbildet – habe ich das richtig verstanden.

Ja. Bei dem erwähnten Vorschlagsrecht der Politik kommt eine informelle politische Absprache der großen Parteien zum Tragen, die aus dem Jahr 2018 stammt. Sie besagt, dass der CDU/CSU, der SPD, dem Bündnis 90/Die Grünen und der FDP. Vorschlagsrechte für diese 8 Richterstellen eines Senats im Verhältnis 3:3:1:1 zustehen. Diese Vorschlagsrechte werden in einer festgelegten Abfolge fällig. Aktuell hat deshalb die Union einen und die SPD zwei Kandidaten vorgeschlagen. Lassen wir einmal zwei Besonderheiten weg, nämlich dass die FDP nicht mehr im Bundestag vertreten ist und die AfD aufgrund der Brandmauer keine Chance hat, Richter durchzubringen und aufgrund der fehlenden Sperrminorität auch keine Nominierungen verhindern kann.

Das erwähnte Vorschlagsrecht der Parteien aus 2018, das im Hinblick auf die Numerik immer noch zur Anwendung gelangt, wurde vor dem Hintergrund des Ergebnisses der Bundestagswahl 2017 so festgelegt.

Damals erzielte die Union 32,9 %, die SPD 20,5 %, das Bündnis 90/Die Grünen 8,9 % und die FDP 10,7 %. Bildet man nun ein Relationsverhältnis auf Basis des Zweitstimmenergebnisses, so ergibt sich bei einer Normierung auf die Summe 8 ein Verhältnis von 3,6 : 2,2 : 1,0 : 1,2 in der oben genannten Reihenfolge der Parteien. Dieses wahlergebnisbasierende Relationsverhältnis spiegelt also nicht ganz genau das dann festgelegte tatsächliche Vorschlagsrecht von 3 : 3 : 1 : 1 ab, aber im Großen und Ganzen bildet es die damaligen politischen Größenverhältnisse ab.

Ihre Kritik setzt nun an, dass es ja Anfang des Jahres eine Bundestagswahl gegeben hat, mit sehr deutlichen Verlusten für die SPD, die aber zu keiner Veränderung des Vorschlagschlüssels geführt haben.

Genau. Betrachten wir nun das Wahlergebnis der Bundestagswahl 2025 und bilden nach gleicher Logik eine Relation. Dabei ignorieren wir weiter, dass die AfD aus den genannten Gründen nicht zum Zuge kommt. Ebenso lassen wir offen, dass die FDP nicht mehr im Bundestag vertreten ist. Als vierte Partei hat ja bereits die Linke Anspruch angemeldet, hier in die Fußstapfen der FDP zu treten.

Die Bundestagswahl 2025 brachte folgende Zweitstimmenanteile: Union 28,5 %, SPD: 16,4 %, Bündnis 90/Die Grünen: 11,6 % und FDP 4,3 %.

Dann ergibt sich nach dieser Wahl bei gleicher Logik ein Relationsverhältnis bei der Normierung auf die Summe 8 von 3,8 : 2,2 : 1,4 : 0,6.

Wie gesagt, ob der nach alter Formel der FDP zustehende Richtervorschlag nun an die Linke gehen sollte oder ob es parlamentarischen Gepflogenheiten gemäß nicht auch sozusagen ein Kontingent für die AfD geben sollte, möchte ich an dieser Stelle gar nicht vertiefen. Mir geht es um den wahlergebnisbasierenden Vergleich von 3,8  : 2,2 : 1,4 : 0,6 zur sozusagen althergebrachten Formel 3 : 3 : 1 : 1.

Sie argumentieren also, wenn man schon die Mitglieder des höchsten deutschen Gerichts, des Bundesverfassungsgerichts, nach politischen Vorgaben besetzt, dann sollte dies zumindest die politische Landschaft widerspiegeln.

Es war ja vorher schon ein kleines politisches Geschenk der Union an die SPD, wie sie oben auf Basis der Bundestagswahl 2017 gesehen haben. Nun ist es der eindeutige Verzicht auf einen rechnerisch der Union zustehenden Richtervorschlag. Ob die Großstrategen der Union das schlicht übersehen haben oder dem Ganzen keine allzu große Bedeutung zumessen, das kann ich nicht beurteilen.

Die Auswirkungen sind dennoch immens. Dieser seitens der Union verschenkte Nominierungskandidat, man kann auch sagen, der verschenkte Richtersitz, bezieht sich ja nur auf einen Senat. Das Verfassungsgericht hat bekanntlich zwei Senate und so geht es folglich insgesamt um zwei Nominierungen bzw. Richterbesetzungen. Angemerkt sei noch, dass, wenn die AfD als nicht verbotene Partei nicht auf eine durchaus fragwürdige Art und Weise de facto von diesem Nominierungsrecht ausgeschlossen wäre, rechnerisch zwei Nominierungen zustünden – allerdings eine auf Kosten der Union. Das ergäbe fünf Nominierungen für die Union und AfD gegenüber 3 für die SPD und Grünen – somit also eine klare Mehrheit für Parteien rechts der Mitte. Was wir stattdessen bekommen, ist ein Nominierungsverhältnis von drei für die Union und fünf für linke Parteien, also ein spiegelbildliches Ergebnis. Wohlgemerkt für jeden der beiden Senate. Es geht hier also nicht um eine kleine arithmetische Ungenauigkeit, sondern um die vermutlich gezielte und bewusste Abkehr von der bisherigen bewährten Praxis, nämlich das Vorschlagsrecht an die tatsächliche politische Landschaft zu koppeln. Wir sehen also eine klare Entkopplung von den Wahlergebnissen. Das muss für jeden Demokraten ein Grund zu größter Sorge sein.

Fest steht somit, dass die Union in einem an und für sich nicht unzweifelhaften Verfahren bürgerliches Terrain aufgegeben hat. Diese Botschaft passt ja durchaus in das Gesamtbild dieser Partei, aber im Zusammenhang mit der Nominierung von Richtern für das Bundesverfassungsgericht hat dies durchaus mehr Aufmerksamkeit verdient, als diesem Aspekt gegenwärtig zukommt. All die Angehörigen der gesellschaftlichen Mitte, die trotz allem Vertrauen in die Unabhängigkeit der Richter Sorge haben, dass politisch ausgewählte Verfassungsrichter in Grundfragen eben dennoch zumindest gelegentlich dem ideologischem Lager ihrer Nominierungspartei folgen, wäre dann gerade sicher deutlich wohler.

Und nun noch die abschließende Frage: Werden die drei Kandidaten am Freitag die erforderliche Zweidrittelmehrheit erreichen?

Ja, davon bin ich überzeugt. Man wird seitens der Union im Hintergrund einen Deal mit der Linken machen. Und die Linke wird, wenn sich die aktuelle Diskussion etwas abgekühlt hat, auch das Vorschlagsrecht für einen Richter erhalten, das die FDP bis zum Rauswurf aus dem Bundestag innehatte. Das rundet dann das desaströse Gesamtbild weiter ab.

Vielen herzlichen Dank für das Interview.


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Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Christof Schwenniger

    Sehr wichtiger Hinweis, dass Proporz, wenn er schon sein muss, zumindest die politischen Lager mathematisch korrekt abbilden sollte.

    Danke auch für den Hinweis, dass die geübte Praxis hinsichtlich der Gewaltenteilung genaugenommen nicht dem geist der Verfassung entspricht. Es wäre ok, wenn durch dieses System wirklich überparteiliche, äquidistante, unvoreingenommene Personen in die Höchstgerichte kämen.
    Aber genau das Beispiel von Brosius-Gersdorf, der man (nicht grundlos) aktivistischen Furor nachsagt, lässt erahnen, dass man sich von diesem von der Verfassung angestrebten Ideal weit entfernt hat.

    Ist ja in Österreich nicht anders: wenn ich die umstrittenen Erkenntnisse des österreichischen Verfassungsgerichtshofs zum ORF („man könnte ja den ORF nutzen“) bedenke, beschleicht mich der hässliche Verdacht, dass (auch) dieses Höchstgericht in aktivistischer Weise Agenden der Exekutive und Legislative usurpiert; wenn auch auf subtil-geschickte Weise.

    Montesquieu rotiert im Grab wie die Turbine eines Düsenjets, angesichts solcher ekelerregender Zustände!

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